Donnerstag, 18. März 2010

Der Tag an dem ich sterben wollte

Der Tag an dem ich sterben wollte, war ein Tag wie jeder andere. Ich wurde wie immer durch das Zuschlagen einer Tür geweckt. Das langweilige Grau eines noch immer verschneiten Stadtwintertages lag vor dem Fenster und zeigte die Welt unverklärt in ihrem Realzustand. Ich schaute aus dem Fenster und sah das Haus auf der anderen Straßenseite. Es stand da wie jeden Tag. Hatte sich nicht verändert. So wie sich alles nicht verändert hatte. Und auf ein mal wurde ich von einer unheimlichen Langeweile ergriffen. Sie ließ mir die Glieder auf eine angenehme weise schlaff werden. Warm wie in einem heißen Schaumbad. Ich erkannte, dass sich nie etwas ändern würde. Schon jetzt konnte ich jeden Tag, jede Minute meines Lebens sehen. Immer morgens an diesem Fenster, oder einem anderen, mit einer Tasse in der Hand. Der große Knall kommt nicht. Keine Wunder in Sicht. Nur 365 tage gefüllt mit dem blick auf das Haus gegenüber. Ich musste ein wenig kichern als ich darüber nachdachte. Und ich beschloss an diesem Tag zu sterben.

Am Tag an dem ich sterben wollte, verließ ich das Haus zu einer Zeit, zu der ich es immer verlasse. Ich lief vorbei am Haus gegenüber die Straßen der Stadt entlang. Ich klopfte an Türen doch keiner öffnete. Keiner war zu hause um zu lesen oder sich mit lieben Menschen zu umgeben, zu frühstücken oder Musik zu hören. Alle machten gerade Karriere.
Dazu hatten sie sich heute, wie jeden Tag, zu einer aberwitzigen Zeit aus dem Bett geschoben, sich unbequem angezogen. Jetzt sitzen sie in Universitäten, Loft-Büros, Banken, Arztpraxen. Und keiner weiß wirklich warum. Aber immer dabei die Angst. Die Angst vergessen zu werden, unwichtig zu sein wenn man nicht aufsteht und den gewohnten Weg zur Arbeit nimmt.


Der Rest war auf der Straße weil sie es zu hause nicht mehr ausgehalten hatten. Aus zu kalten Altbauwohnungen gepurzelt, den Körper in Klamotten gehüllt, die nicht wie welche aussehen. Zu eng, zu weit, zu kratzig, in keinem Fall bequem.

So huschen sie durch die breiten Straßen auf der Suche nach einem Grund nicht stillstehen zu müssen. Kaufen noch mehr unbequeme Kleidung, Esstische, Beistelltische, Nachttische, Kindermode, Biofleisch, Biogemüse, Biogleitgel.

Alles in der Hoffnung es möge sich doch endlich dieses Gefühl von Richtigkeit und erwachsen-sein einstellen.


Am Tag an dem ich sterben wollte, beschloss ich nicht mehr an meinem leben teilzuhaben. Nicht den sonst so streng organisierten Alltag einzuhalten. Mit Regeln und Terminen, um ja keine unbeschäftigte Minute zu haben. Selbst die Freizeit straff organisiert. Verabredungen, Kultur, Gartenarbeit, Sport. Denn wer nichts zu tun hat, ist unstrebsam, erfolglos, hässlich. Womöglich verschwindet man wenn man nichts mehr tut. Ein Zustand so nah am Tod, dass selbiger ganz unerwartet eintritt.
Ich starb nicht.

Am Tag an dem ich sterben wollte, setzte ich mich ans Ufer um über den schönsten Abschied aus dieser Welt nachzudenken.
Da stupste mich etwas in die Seite. Ein kleiner Igel saß neben mir. Ich wollte mich schon aufregen über diesen unangebrachten Körperkontakt als der Igel seine Kopf schüttelte. „Ihr Menschen seit schon komisch. Macht euch so viele Umstände in eurem Leben. Alles aus Angst unbedeutend zu sein. Aber wisst ihr was? - Ihr seid es. Kein bisschen wichtiger als ich Igel. Nur erwarte ich auch nichts anderes. Ich werde geboren, möchte mich mit einer hübschen Igelin vermehren, im Winter lange in einem schönen Laubhaufen schlafen und erfreue mich an einer dicken Nacktschnecke. Am Ende sterbe ich wie Milliarden Igel vor mir. Das ist gut so. Für etwas anderes ist kein Organismus auf dieser Welt gedacht. Seid doch damit zufrieden. Da braucht es keine Angst etwas zu verpassen, Hast nach etwas größerem, Neid weil man nichts größeres erreicht hat. Sicher wird sich ein Tag wenig vom nächsten unterscheiden. Na und? Sind deine Tage denn so schlecht? Nur deswegen musst du nicht heute aus dieser Welt verschwinden. Das passiert schon noch früh genug.“

Noch bevor ich etwas erwidern konnte nahm der Igel seinen Hut und ging.


Am Abend des Tages an dem ich sterben wollte ging ich zurück in meine Wohnung. Vorbei an dem Haus, das noch war wie am Morgen. Wie an jedem Morgen.
Ich stellte mich ans Fenster und beschloss heute nicht zu sterben. Weitermachen. Wie man an jedem Tag aus irgendeinem Grund doch weitermacht.
Wegen Sonntagen mit asiatischem Essen, Schallplatten, ausgedehnten Frühstücken, jemand, der nachts seinen Arm um dich legt.

Oder einem Haus, von dem man weiß, es wird immer da sein.

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